Sage ´DAS HEILIGE WASSER´
Zwei Hirtenknaben weideten am nördlichen Abhange des Patscherkofels ihre Kühe (man zählte 1606 nach Christus); da giengen ihnen sechs Stück verloren, und sie konnten dieselben ungeachtet alles Suchens nicht mehr finden. Die bekümmerten Knaben beteten in solcher Noth aus tiefem Herzensgrunde zur Himmelskönigin Maria, und diese erschien ihnen in einem überirdischen Lichtglanze und zeigte mit ihrer Rechten auf einen hohen Gebirgspunkt, wo die vermißten Kühe weideten und vom Abendsonnenscheine hell beleuchtet zu sehen waren. Die begnadigten Hirten wußten nicht, wie ihnen geschah; sie fielen auf ihre Knie nieder und dankten. Als sie sich aber von ihrem Staunen erholt hatten, war die himmlische Erscheinung verschwunden. Beide versicherten, deutlich die Worte vernommen zu haben: „Hier bauet mir zu Ehren eine Kapelle !“ und sie fanden an dieser geheiligten Gebirgsstelle eine ungewöhnlich frische Quelle, die früher nicht da war.
Sie kehrten sodann mit ihren Kühen in die Heimat zurück, machten aber von allem, was sie gesehen und gehört, durch viele Jahre nichts kundbar. Indessen verfügte sich doch der eine von ihnen, der die gehabte Erscheinung im Igelser Walde nie vergessen konnte, öfter an jene Stätte und nahm einmal auch das fünfjährige Knäblein seines Nachbars, welches von Geburt stumm war, mit sich. Nun erfolgte an dem Gnadenorte ein neues Wunder: das Knäblein konnte reden, als hätte ihm die Sprache nie gefehlt. Solches ereignete sich im Jahre 1651. Jetzt verkündete er das Geschehene und auch die frühere Erscheinung. Er fand Glauben, und noch in demselben Jahre entstand durch Beiträge frommer Gemeindsleute und durch Opfer von Auswärtigen bei dem heiligen Wasser eine Kapelle und eine Wallfahrt.
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 257, Seite 157